Prozess

Ich weiß, dass ich eine wunderschöne Prinzessin bin. Das weiß ich, seitdem ich überhaupt denken kann. Als Kind hatte ich eine atemberaubende Stola und wann immer ich diese um meine Haare legen konnte, spürte ich sofort dieses großartige Gefühl von Freiheit und Größe. Mit den Jahren habe ich mir jedoch einen Virus eingefangen, einen Virus, der mir sagte, dass ich nicht gut genug sei, so wie ich bin. Ich musste braver sein, musste angepasster sein, musste mehr folgen und das machen, was von mir erwartet wurde. Dieses Virus machte einsam, ließ mich immer wieder alleine sein und ohnmächtig zurück. Wisst Ihr, was aber immer für mich da war? Das Essen!

Oh, wie wunderbar fühlt es sich an, wenn süße, weiche Speisen in den Mund gelangen, wenn das Wasser im Mund zusammen läuft und dieses Gefühl nach Geborgenheit und Sicherheit entsteht. Wie sehr liebe ich diesen Zustand der absoluten Hingabe. Wie sehr hat sich mein Körper, mein Gehirn und mein Geist daran gewöhnt und wie unglaublich einfach ist es, diesen Zustand zu erreichen. Ich will mehr davon! Immer und immer wieder. Es ist doch nur die eine Schokolade, nur die eine Pommes mit Mayo, nur das kleine Stück Kuchen. Über Monate und über Jahre, Kilo für Kilo mehr.

Natürlich, es gibt noch andere Freuden im Leben. Gummi-Twist spiele ich gerne, treffe mich gerne mit Freunden zum Fangen spielen und auch zum Fußball. Doch das Essen ist schneller greifbar und immer da und ganz leicht zu bekommen, ohne Anstrengung. Beim Gummi-Twist komme ich nicht mehr so hoch und zum Fußball braucht man schnellere Spieler als ich es mittlerweile bin. Aber das Essen, das ist immer da und stellt keine Fragen. Ein so wunderbares Gefühl entsteht. Immer und immer wieder. Nur noch heute, nur noch diesmal.

„Kind, du musst abnehmen!“, hörte ich schnell. „Ach was, die hat schwere Knochen!“ „Ach, lass sie erstmal verliebt sein, das verwächst sich schon noch.“

Disziplin wurde eines der häufig gebrauchten Wörter. Ein wenig Disziplin sei nötig und dann alles wieder in Ordnung. Ein bisschen Kalorien zählen und auf die Ernährung achten. Süßigkeiten weg lassen und alles wird gut. Ich habe lange daran geglaubt und mein Lieblingswort wurde „morgen“. Morgen fange ich an, ab morgen bin ich diszipliniert, ab morgen keine Schokolade mehr, ab morgen. Und was kam dann? Ab morgen keine Geborgenheit mehr, ab morgen keine Sicherheit mehr, ab morgen keinen Zustand absoluter Hingabe mehr? Das macht Druck und Angst! Und ganz schnell ist die Schokolade im Mund und der Glückszustand wieder da. Kurz, denn ein neuer bester Begleiter war geboren. Das schlechte Gewissen, das Gefühl, ein Versager zu sein. Stein für Stein schichtete sich mein Hinkelstein zusammen.

Merkt Ihr was? Nun, ich habe sehr lange gebraucht, um das Entscheidende zu merken.